Psychologie

Im Laufe des Studiums lernt man viele Theorien kennen, gute und weniger gute.

Eine Theorie ist dazu da, Komplexität zu verringern, d.h. menschliches Verhalten auf Regeln zurückführen, die weniger komplex sind als das Verhalten selbst.
Theorien zu schreiben ist sicher eine schöne Sache, wie wenn man sichmit eigenen Händen ein Haus baut. Jeden Stein hat man selbst gesetzt, und alles greift wunderbar ineinander.
Leider übersehen manche Autoren, dass eine Theorie aus sich selbst heraus keinen Zweck erfüllt. Erst die Prüfung an der Realität bringt Sinn in die Übung. Und genau da beginnen die Probleme...

Eine Theorienfamilie, die mir immer wieder besonders aufs Gemüt schlägt, sind die sogenannten Erwartung-mal-Wert-Theorien (ExW). Grob gesagt funktionieren sie folgendermaßen:

Nach dieser Theorie sind wir also rein logische vorgehende Wesen (wie ein Computer), Gefühle kommen höchstens als Störeinflüsse vor.

Hat Björk also Unrecht, wenn sie singt "There's definitely no logic to human behaviour"? Gibt es wirklich Menschen, die völlig aus dem Verstand leben? Ich habe einen gefunden, bei Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften:

In dieser Szene lästert Ulrichs Schwester Agathe über ihren Ehemann ("Herr Hagauer"), den sie gerade verlassen hat. Später prägt sie den Begriff "hagauerisch", der meiner Meinung nach gut auf die Erwartung-mal-Wert-Theorien passt.

«Es ist der Wille,» zitierte Ulrich «der sich bei fortschreitender Verstandes- und Vernunftentwicklung das Begehren, beziehungsweise den Trieb, in Gestalt der Überlegung und des darauf folgenden Entschlusses unterwerfen muß !»

«Ist das wahr?» fragte seine Schwester.

«Warum fragst du?»

«Wahrscheinlich weil ich dumm bin.»

«Du bist nicht dumm !»

«Ich habe immer schwer gelernt und nie recht verstanden.»

«Das beweist wenig.»

«Dann bin ich eben wahrscheinlich schlecht, weil ich das, was ich verstehe, nicht in mich aufnehme.»

Sie standen an die Pfosten der Türe gelehnt, die ins Nebenzimmer führte [...] einander nahe gegenüber; Tages- und Kerzenlicht spielte auf ihren Gesichtern, und ihre Stimmen verschränkten sich in einander wie bei einem Responsorium. Ulrich betete weiter seine Sätze vor, und Agathes Lippen folgten gelassen. Die alte Qual der Ermahnungen, die darin bestand, daß in das zarte, verständnislose Gehirn der Kindheit eine harte und ihm fremde Ordnung gepreßt wurde, bereitete ihnen Vergnügen, und sie spielten damit.

Und mit einemmal rief, ohne durch das Vorangegangene unmittelbar dazu aufgefordert zu sein, Agathe aus: «Denk dir das nun einfach auf alles ausgedehnt, so ist es Gottlieb Hagauer!» Und sie begann ihren Mann wie ein Schulkind nachzuäffen: «Weißt du wirklich nicht, daß das Lamium album die weiße Taubnessel ist?» «Und wie sollten wir anders vorwärts kommen, wenn nicht den gleichen mühevollen Gang der Induktion, der das Menschengeschlecht in vieltausendjähriger, mühevoller Arbeit, voll von Irrtümern, schrittweise zum heutigen Stande der Erkenntnis gebracht hat, an der Hand eines treuen Führers zurücklegend?!» «Kannst du denn nicht einsehen, liebe Agathe, daß das Denken auch eine moralische Aufgabe ist? Sich konzentrieren bedeutet eine stete Überwindung der eigenen Bequemlichkeit.» «Und geistige Zucht bedeutet jene Disziplinierung des Geistes, vermöge welcher der Mensch immer mehr in den Stand gesetzt wird, längere Gedankenreihen unter beständigem Zweifel gegen die eigenen Einfälle vernunftgemäß, das heißt durch einwandfreie Syllogismen, durch Schlußketten und Kettenschlüsse, durch Induktionen oder Schlusse aus dem Zeichen, durchzuarbeiten und das schließlich gewonnene Urteil so lange der Verifikation zu unterziehn, bis alle Gedanken aneinander angepaßt sind!» - Ulrich staunte über diese Gedächtnisleistung seiner Schwester. Es schien Agathe unbändiges Vergnügen zu bereiten, diese Schulmeistersätze, die sie sich, Gott weiß wo, vielleicht aus einem Buch, angeeignet haben mochte, von sich zu geben und tadellos aufzusagen. Sie behauptete, so spräche Hagauer.

Ulrich glaubte es nicht. «Wie könntest du dir solche langen, verwickelten Sätze denn bloß aus Gesprächen gemerkt haben!?»

«Sie haben sich mir eingeprägt» erwiderte Agathe. «Ich bin so.»

«Weißt du denn überhaupt,» fragte Ulrich erstaunt «was ein Schluß aus dem Zeichen oder eine Verifikation ist?»

«Keine Ahnung!» räumte Agathe lachend ein. «Vielleicht hat er es auch bloß irgendwo gelesen. Aber er spricht so. Und ich habe es nach seinem Mund auswendig gelernt wie eine Reihe sinnloser Worte. Ich glaube, aus Zorn, eben weil er so redet. Du bist anders als ich: in mir bleiben die Dinge liegen, weil ich nichts mit ihnen anzufangen weiß, - das ist mein gutes Gedächtnis. Ich habe, weil ich dumm bin, ein schrecklich gutes Gedächtnis!» Sie tat, als läge darin eine traurige Wahrheit, die sie abschütteln müsse, um in ihrem Übermut fortzufahren:

«Das geht bei Hagauer ja selbst beim Tennis so vor sich: 'Wenn ich beim Erlernen des Tennisspiels zum erstenmal meinem Schläger absichtlich eine bestimmte Stellung gebe, um dem Ball, von dessen Flug ich bis dahin befriedigt war, nunmehr eine bestimmte Richtung zu verleihen, greife ich in den Verlauf der Erscheinung ein: ich experimentiere!»

«Spielt er gut Tennis?»

«Ich schlage ihn sechs zu null.»

Sie lachten.

Robert Musil - Der Mann ohne Eigenschaften S.702ff


© 2005 Marc Halbrügge